ANTIPODE

November 2013 | von Dorothea Sturm M.A., Fürth

ANTIPODE: Galt die Fotografie bei William Henry Fox Talbot (1800–1877) noch als „Zeichenstift der Natur“, und ist dem Medium Fotografie aus kultureller, historischer und ästhetischer Sicht nach wie vor ein gewisser „Realismus“ zugeschrieben, so hat sich die Form des Wirklichkeitsbezuges von den Anfängen des Mediums bis heute stark gewandelt. Fotografien bilden oftmals keine Realitäten mehr ab, vielmehr visualisieren sie bestimmte Wirklichkeitskonstruktionen.

So verhält es sich auch mit den Bildräumen des Nürnberger Fotografen Bernd Telle. Leer stehende Kaufhäuser und Bibliotheksäle werden durch die Drehung des Bildmotives zu poetischen Orten, in denen ein Oben und Unten nicht zählt und das Raum-Zeit-Gefüge außer Kraft gesetzt ist. Der aktive Rezipient erfährt die sinnliche Botschaft des Raumeindruckes, und löst das optische Rätsel durch sein „kulturelles Wissen“ – das Wissen darum, wie Räume eigentlich beschaffen sind. Hierin liegt der Reiz dieser Fotografien, sie führen über die visuelle Betrachtung zum sinnlichen Erleben.

Dieses „Auf-den-Kopf-stellen“ der Welt ist ein wiederkehrendes Element in Telles fotografischem Oevre. Impulsgebend ist eine kindliche Erinnerung: schon damals war Bernd Telle fasziniert vom Handeln des Fotografen unter dem schwarzen Tuch der Fachkamera. Als Fotograf in Ausbildung war er es nun selbst, der unter das Tuch schlüpfte und seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend Bilder für Werbung und Kunst gestaltete. Als ästhetische Reflexion setzen sich die kopfstehenden Motive in den digitalen Arbeiten des Fotografen und Künstlers fort.

In der Serie „Antipode“ lotet Bernd Telle den Grenzbereich zwischen Malerei und Fotografie aus. Inspiriert vom barocken Vanitas-Stilleben greift Telle ein bedeutendes Charakteristikum auf, das der Fotografie eingeschrieben ist: jede fotografische Aufnahme ist auch ein memento mori. Die Doppelung der frei im Raum schwebenden Blumenarrangements bricht die Sehgewohnheiten des Betrachters auf, wobei die Bildsprache der barocken Trompe-l`oeil Malerei aufgegriffen und in eine neue fotografische Ästhetik transformiert wird.

Bernd Telle ist auf der Suche nach dem Wesentlichen, dem Wesenhaften, das den Dingen und Menschen innewohnt, die er mit seiner Kamera einfängt. Gleichzeitig setzen die Aufnahmen Impulse, durch die der Betrachter dazu angeregt wird, eigene, persönliche Interpretationen zu finden.

Die Aufgabe des Fotografen erschöpft sich für ihn nicht im Komponieren ästhetisch anspruchsvoller Aufnahmen. Ebenso wichtig sind ihm der künstlerische Austausch und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Leitmedium Fotografie. Er sieht sich als kultureller Botschafter der Region, der durch Kunst Türen öffnet und die Begegnung der Kulturen über das Medium Fotografie ermöglicht. Im Mittelpunkt steht dabei die Stadt Nürnberg und ihre Beziehungen zu den Partnerstädten. Er partizipiert an zahlreichen nationalen und internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen, beispielsweise in Glasgow, Venedig, Palermo, Kong-Ju (Südkorea), Shenzen und Zhuzhou (China).