Vollendete Möglichkeitsformen – Parallelverschiebung

Januar 2014 | von Dorothea Ritter-Sturm M.A., Fürth

Vollendete Möglichkeitsformen – Parallelverschiebung:
Das komplexe, dem Medium Fotografie eingeschriebene Verhältnis von Zeitlichkeit und fotografischem Abbild beschäftigt und inspiriert Theoretiker und Künstler gleichermaßen. Bernd Telle spürt in mehreren Werkserien diesem Thema nach. Schon mit dem Titel „Vollendete Möglichkeitsformen“ verweist der Künstler darauf, dass seine Arbeiten keine reine Erfassung visueller Sachverhalte darstellen. Vielmehr erzeugt er zeitlose Wirklichkeitsformen und führt sie dem Betrachter als Projektionsflächen vor Augen.

Vollendete Möglichkeitsformen 1
Die Werkserie entsteht während einer Reise in die südchinesische Stadt Zhuzhou. Telle bereist die Stadt gemeinsam mit einer Delegation von Nürnberger Künstlerinnen und Künstlern, die der Einladung Chinas zum kulturellen und künstlerischen Austausch folgen. Bereits im Vorfeld recherchiert Bernd Telle eine architektonische Besonderheit der Stadt, und widmet ihr eine neue Werkserie. Auf der Suche nach Wohnraum greift Zhuzhou zu ungewöhnlichen Maßnahmen und konzipiert eine Anlage mit vier freistehenden Villen samt Gartenanlage – und das auf dem Dach einer Shopping Mall. Der Mikrokosmos einer Landhaussiedlung als Bekrönung eines Einkaufszentrums inmitten einer von Hochhaus-Silhouetten geprägten Megacity wirkt schon allein durch den seltsamen Ort und die deplaziert anmutende Architektursprache befremdlich. Durch bewusst künstlerisch komponierte Aufnahmen gelingt es dem Fotografen, eine Wirkung zwischen Virtualität und Realität zu erzeugen. Meist nehmen Betonboden und Grünstreifen großen Raum im Vordergrund des Bildausschnittes ein. Im Bildmittelgrund liegen die inzwischen unbewohnten Wohnhäuser, deren Baustil wohl an toskanische Landhäuser oder klassizistische Villenbauten erinnern soll. Statt eines freien Ausblicks folgen im Hintergrund die Wolkenkratzer, deren Dimension alles andere überschattet. Durch die Wahl der Perspektive wirken die Villen wie kleine Skulpturen, die im Schatten der Hochhäuser zwischen Lüftungsrohren, Rampen und Kabeln verschwinden. Dem Traum vom luxuriösen, freistehenden Haus, vom individuellen Wohnraum und unabhängigen (Nutz-) Garten stehen das Grau der Hochhäuser, der vom Smog getrübte Himmel und die verwaschene, schmutzige Bausubstanz gegenüber. Zeitlosigkeit und Vergänglichkeit sprechen aus jeder Aufnahme.

Vollendete Möglichkeitsformen 2
Die zweite Serie entsteht in einem Vergnügungspark ebenfalls in Südchina. Telle zieht es in die angrenzende Baustelle der Parkerweiterung. Ihm ist daran gelegen, die unwirtliche und unwirkliche Atmosphäre dieses Platzes einzufangen. Schmuddeliges Regenwetter und dunkelgrauer Beton charakterisieren die „Unfarbigkeit“ dieser Serie, die nur durch das spärliche Grün der neu angepflanzten Bäume und das Rot der Absperrungen aufgebrochen wird.
Eigentlich zielt der Freizeitpark auf die Ästhetisierung oder zumindest Täuschung der Öffentlichkeit durch den schönen Schein ab, doch der Blick in die Kulisse wirkt plötzlich düster und bedrohlich. Leere Fensternischen scheinen misstrauisch den Betrachter zu beäugen. Bernd Telle zeigt die Gebäude meist im Anschnitt. Einzeln betrachtet geben sie weder Auskunft über ihre geographische Zugehörigkeit noch über ihre Funktion, auch die Tageszeit bleibt unbestimmt. Man erfährt nichts über die Menschen, die sich hier architektonisch verewigt haben. Die Fotografien erzählen keine bestimmte Geschichte, sie lassen an Interpretation alle Möglichkeiten offen.

Parallelverschiebung
In der Serie „Parallelverschiebung“ nimmt Bernd Telle mögliche Schauplätze menschlichen Alltags unter die Lupe. Nach wie vor hat Wohnraum für den Menschen einen hohen Stellenwert. Nicht nur das Bedürfnis nach Abgrenzung und Individualität, auch der historische Wandel und die Zuweisung der Geschlechterrollen, all diese Faktoren können am Lebensraum des Menschen abgelesen werden. Telles Aufnahmen historischer Innenräume eines Freilandmuseums zeigen das Alltägliche – Wohnstuben, Schlafräume, die Küche. Anschließend besuchte der Künstler Wohnparks der Jetzt-Zeit, nämlich Musterhaussiedlungen. Genaue Beobachtung und gezielt gewählte Bildausschnitte erzielen verblüffende Ergebnisse: nahezu parallel angeordnet findet sich der Esstisch neben der Vitrine, das Kinderbett im Schlafzimmer wird lediglich durch eine Bettbank ersetzt, sogar die Eckbank des Wohnzimmers findet ihre moderne Entsprechung.

Eine zentrale Qualität der Fotografie ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitlichkeiten (R. Barthes). Der Moment der Aufnahme verweist auf eine Zukunft, die endlich ist, und gleichzeitig blickt der Betrachter auf einen vergangenen Augenblick. Damit charakterisiert eine Doppeldeutigkeit, eine „Doppelzeitlichkeit“ die Wahrnehmung von Fotografie. Bernd Telle nimmt in dieser Serie durch die Gegenüberstellung der „historischen Vergangenheit“ mit den ähnlich angelegten Interieurs aus der Jetzt-Zeit eine zeitliche Gleichsetzung vor, die Gedanken an den unendlichen Kreislauf des Seins und Vergehens evozieren.

Bernd Telle thematisiert in seinen Werkserien „Vollendete Möglichkeitsformen“ Dinge und Zeugnisse, die der Mensch hinterlässt, durch die er seine Individualität ausdrückt. Sein fotografischer Blick zeigt die Oberfläche dessen, was zu sehen ist. Viele Fragen bleiben offen, offen für die Gedanken des Betrachters. Bei aller Poesie sind die Serien klar der konzeptuellen Fotografie zuzuordnen.