Was machen die Chinesen?

August 2017 | museen der Stadt Nürnberg | blog | ein Beitrag von Gabriele Koenig

Der Künstler und Fotograf Bernd Telle porträtiert die Partnerstadt Shenzhen.

Das kann man sich kaum vorstellen. Eine Stadt, die zwölf, dreizehn oder fünfzehn Millionen Menschen zählt und angeblich „jeden Tag um ein Stockwerk wächst“. Wie lebt man da? Der Fotograf Bernd Telle ist nach Shenzhen in China gereist und wird seine Erkundungen über Nürnbergs Partnerstadt beim grenzenlos-Festival und in der Ausstellung „Shenzhen grenzenlos“ vorstellen.


Das dicke Ende kommt immer hinterher. Tausende Bilder hat Bernd Telle in Shenzhen gemacht, jetzt sucht er im Atelier in Klingenhof die besten aus. „Shenzhen spürbar machen“ steht in großen Lettern über der Auswahl. Denn vieles hat sich verändert in der Millionenstadt, die seit 20 Jahren mit Nürnberg verbunden ist und die der Künstler schon mehrmals besucht hat.

Übergrünte Perspektiven.
„Shenzhen ist brutal grün, extrem sauber, sehr schnell und immer laut“, sagt Bernd Telle. Was für ein Kontrast zum Atelier, wo nur das Zwitschern der Vögel und das Tuten der Gräfenbergbahn die sommerliche Stille unterbricht. Was für ein Kontrast auch zu seinen Eindrücken von 2004 und 2006. Aber die chinesische Boomtown, die 1980 schon zur Sonderwirtschaftszone erklärt wurde, entwickelt und verändert sich eben rasend schnell. „Fotos, die ich vor zehn Jahren gemacht habe, funktionieren heute nicht mehr: Viele der Perspektiven sind übergrünt.“
Dabei arbeitet Bernd Telle, Jahrgang 1957, selten spontan. „Vor einer Reise lese ich viel: Was erwartet mich am Ziel, was interessiert mich?“ Ein Motiv wollte er auf jeden Fall erneut aufnehmen: Hochhäuser, die sich in Wasser spiegeln. Wo ist oben, wo unten? Das wirkt auf Betrachter so verstörend wie ästhetisch. Alles andere gab die Stadt vor. Das Rathaus, die Plätze, das Passagierterminal am Hafen, der Strand. Frappierend: Die Stadt, die man sich voller Menschen denkt, wirkt auf vielen Fotografien wie ausgestorben.

Unverzichtbare Smartphones.
Anders als vor zehn Jahren, als Bernd Telle einen Austausch mit einem Kollegen aus Shenzhen organisiert hatte und bei diesem auch wohnte, „strahlt die Stadt Modernität aus“: Die Glasfassaden der Wolkenkratzer sind ein Indiz, die westliche Mode ein weiteres und natürlich die unverzichtbaren Smartphones. „Die Welt ist unheimlich gleich geworden“, beobachtet Bernd Telle. Die jungen Chinesen spielen ständig mit den Smartphones und es scheint kein Widerspruch zu sein, dass eine junge Studentin mit Bachelor-Hut und Handy vor dem Plakat von Deng Xiaoping posiert. Als kommunistischer Regierungschef von 1979 bis 1997 hatte der die Reformära der Volksrepublik eingeleitet. „Es ist toll, was da passiert“, sagt Bernd Telle.
In den vergangenen zehn Jahren ist das Selbstbewusstsein der Chinesen gewachsen. Mit offenem Blick schauen sie nun direkt in die Kamera, viele machen dazu das Victory-Zeichen. Wo das herkommt? Das muss sich Bernd Telle zusammenreimen, denn Chinesisch spricht er – bis auf die Begrüßungsformel Nihao und das freundliches Danke Xiéxié – nicht. Aber über vieles könne man sich mit Händen und Füßen verständigen oder organisiert sich, wenn es nicht anders funktioniert, einen Übersetzer.

Die Welt auf den Kopf gestellt.
Herkömmliche Sichtweisen zu hinterfragen und eine eigene Sicht zu finden – das gehört für den Künstler Bernd Telle zur Grundausstattung. Seit einigen Jahren stellt er die Realität buchstäblich auf den Kopf, wenn er Architektur fotografiert und verkehrt herum hängt. Er ist mit Hilfe einer Maskenbildnerin in die Haut von Italienern, Afrikanern und Asiaten geschlüpft und hat sich als Albrecht Dürer und Veit Stoß porträtiert. Und wenn er Bemerkenswertes entdeckt, wie beispielsweise ein Märchenschloss in einem Shanghaier Vergnügungspark, das noch nicht angestrichen war und betongrau dastand, setzt er sich über scheinbar gesetzte Grenzen hinweg und verlangt Zutritt. Immer höflich natürlich, aber mit einem Willen, dem schwer zu widerstehen ist.

Auch von dieser Reise nach Shenzhen bringt Bernd Telle Fragen mit, auf die er in zehn Tagen keine Antwort gefunden hat. Wo wohnen die Männer, die die Hecken trimmen, und wo die Frauen aus der Bibliothek? Wie versorgt sich diese gigantische Stadt mit Lebensmitteln und mit Energie? Was machen die Chinesen mit ihren Alten? Möglicherweise werden sie zum Ausgangspunkt einer weiteren Reise, der Kern eines neuen Projektes.